Eine lange Reise

Wie das Pottwalskelett nach Göttingen kam - vom Strand in St. Peter-Ording zum Forum Wissen. 24 Jahre Geschichte.

Im Januar 1998 bot sich vor der Küste St. Peter-Ordings in Schleswig-Holstein ein trauriges Spektakel. Sechs Pottwale, die größten bezahnten Prädatoren der Welt, hatten sich in die Nordsee verirrt. Für die gigantischen Meeressäuger, deren Jagdgebiete in der Tiefsee liegen, können flachere Meere wie Ost- und Nordsee eine potentielle Todesfalle darstellen. Der Küstenwache gelang es zusammen mit Greenpeace, drei der sechs verirrten Pottwale wieder aufs offene Meer zu geleiten. Für die drei anderen Bullen kam jede Hilfe zu spät; sie strandeten und verstarben. Unter ihnen war auch der Pottwal, dessen Skelett im Forum Wissen Göttingen ein neues Zuhause gefunden hat – eine Walheimat fürs Lernen und Lehren.

Wo und wann genau die Reise unseres Wales begann, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Das Verbreitungsgebiet der Pottwale umfasst verschiedene Ozeane rund um den Globus, wobei sie jedoch in bestimmten Gebieten häufig anzutreffen sind. In Europa gilt vor allem die Region um die Inselgruppe der Azoren und vor Madeira als ein wichtiger Lebensraum. Hier finden sich ganzjährig Populationen von Pottwalweibchen und Jungtieren, die von den reichen Nahrungsquellen und den günstigen Meerestiefen angezogen werden. Bullen verlassen ab einem Alter zwischen 18 bis 21 Jahren diese Gebiete gen Norden. Viele der Männchen verbringen in den Gewässern vor Nord-Norwegen die Sommermonate.

Vermutlich war auch die Gruppe, mit der unser Pottwal unterwegs war, auf dem Weg Richtung Norwegen, wo sie sich bereits nördlich von Großbritannien verschwommen hatten und dann in der Nordsee landeten. Hier finden Pottwale nicht genug Nahrung und hungern. Außerdem scheinen sie flache Strände über ihre Echolokation, ihrem „Navigationssystem“, nicht oder nur schlecht wahrzunehmen.

Warum Wale stranden, ist noch nicht geklärt. Es gibt unterschiedliche Hypothesen und vermutlich treffen viele von ihnen zu. Es kann auf natürliche Umstände wie Gezeiten, Unterwasserformationen oder Störungen ihres Navigationsverhaltens zurückzuführen sein. Es gibt jedoch auch menschliche Einflüsse, die zu Strandungen führen können, wie beispielsweise Lärmverschmutzung im Meer, Kollisionen mit Schiffen, Überfischung und Verschmutzung der Meere. Manchmal gelingt es, die Wale erfolgreich zu retten und sie können in tiefere Gewässer zurückkehren, wie drei der sechs Tiere vor St. Peter-Ording. Leider ist es vielen Fällen jedoch nicht möglich, die gestrandeten Wale zu retten. Sie verenden dann an ihren Verletzungen, Austrocknung, werden von ihrem eigenen Körpergewicht erdrückt oder können sogar Ertrinken, wenn ihr Blasloch (die Nasenöffnung) unter Wasser gerät.

Auch wenn wir uns ein anderes Schicksal für unseren Pottwal gewünscht hätten, ergab sich aus dem Tod des Tieres eine, für die Wissenschaft, besondere Situation: eine neue Quelle des Lernens. Aber auch das öffentliche Interesse an den Kadavern war immens. Kein Wunder, denn mit einer Länge von etwa 17 Metern und einem Gewicht von um die 40 Tonnen waren die jungen Pottwalbullen am Strand ein außergewöhnlicher Anblick. Eben diese Dimensionen machten es unmöglich, die Tiere in einem Stück vom Strand zu schaffen.

Deshalb reiste eine Woche nach der Strandung eine Gruppe von Mitarbeiter*innen des Zoologischen Museums und Zoologischen Instituts der Uni Göttingen an um einen der Pottwale vor Ort zu zerlegen und die Knochen, mit Hilfe der Firma Hesse, nach Göttingen zu transportieren. Nachdem in Schwerstarbeit und unter eisigen klimatischen Bedingungen etwa 35 Tonnen Fleisch und Fett abgetragen wurden, wurde das geteilte Skelett - bestehend aus 157 einzelnen Knochen und 48 Zähnen - zur Berliner Straße 28 transportiert. Es benötigte weitere drei Jahre, das Fachwissen von Zoologen, Präparatoren, Kranbetreibern, zahlreiche helfende Hände und eine gute Tonne Persil, bis das zusammengesetzte Skelett im damaligen Zoologischen Museum bewundert werden konnte. Es schien, als hätte der Wal ein neues "Leben" im Dienste der Wissenschaft erhalten.

18 Jahre später wurde der Favorit der Museumsbesucher erneut in seine Einzelteile zerlegt und befand sich in temporärer Lagerung, für die Öffentlichkeit unzugänglich. Der Grund dafür war der Umbau des ehemaligen zoologischen Gebäudes der Universität Göttingen in der Berliner Straße, das 1878 als "Naturhistorisches Museum" der Universität errichtet wurde und das das Pottwalskelett und mehr als 120.000 andere Exemplare beherbergte. Das Gebäude wurde aufwendig saniert und 2022 als Forum Wissen neu eröffnet. Der erste Teil - das Wissensmuseum – ist bereits seit der Eröffnung für die Öffentlichkeit kostenfrei zugänglich. In den nächsten Jahren werden auch das Biodiversitätsmuseum Göttingen und das Thomas-Oppermann-Kulturforum in der Berliner Straße 28 ihre Pforten öffnen. Das Forum Wissen hat das Ziel, eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit zu sein und die Wissenschaftskommunikation auf eine neue Ebene zu heben.

Der Wiedereinzug des Pottwalskeletts war aufgrund der Kosten für die Installation des Riesen durchaus nicht unumstritten. Aber ein Pottwal beeindruckt nicht nur durch seine schiere Größe. Diese gigantischen Säugetiere haben eine ganze Reihe außergewöhnlicher Merkmale und sind generell eine beeindruckende Kombination von Superlativen. Mehr darüber könnt ihr bald in unserer ‘Wal Wissen’ Rubrik erfahren. 

Seit dem 19. März 2023 ist unser Wal wieder für alle in der Berliner Straße 28 zugänglich. Nach einer langen Reise ist er zurück in seiner Walheimat Göttingen, bereit die Wissenschaftler*innen und Besucher*innen des Forum Wissen zum Staunen, Lernen und Lehren zu animieren.